Cruising - Kritik | Film 1980 | Moviebreak.de (2024)

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Kritik Fazit

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„Es steckt eine Menge in mir, was Du nicht weißt.“ Diese Worte addressiertSteve Burns (Al Pacino, „Der Duft der Frauen“) an seine Freundin, nachdem sie gerade miteinander geschlafen haben. Für die Handlung von „Cruising“ funktionieren diese Worte in einer Art selbsterfüllende Prophezeiung: Steve wird noch feststellen, dass er nicht der Mensch ist, der er geglaubt hat zu sein, während wir als Zuschauer schnell bemerken, dass William Friedkin sich mit „Cruising“ über die Gesetzmäßigkeiten des herkömmlichenPolizei-Thrillers hinaussetzt.Vielmehr benutzt der immer schon äußerst graphische Regisseur die konventionelle Story als sicheres Lockmittel, um durch diese immer tiefer in den Zuschauer hineinzugelangen. Steve Burns wird von seinem Captain (Paul Sorvino, „GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia“) mit den Worten „Würden Sie gerne mal verschwinden?“ in ein Undercover-Programm geschleust, einfach aus dem Grund, weil der augenscheinlich heterosexuelle Burns dem äußerlichen Profil der erstochenen Opfer entspricht, die in der New Yorker Schwulenszene seit einiger Zeit aufgefunden werden.

Und genau darum geht es in „Cruising“: Um das Verschwinden, um das vom Erdboden verschluckt werden, um sodannals neue Persönlichkeit zurückzukehren. William Friedkin offeriert dem Zuschauer eine ganz klare Frage: Gibt es tatsächlich eine Definition der eigenen Identität? Oder ist der Mensch in der Lage, sich mehrere Identitäten anzueignen, sie, entsprechend seiner Umgebung, seiner Gesinnung, seiner Erfahrungen, abzuwerfen wie eine Exoskelett, um eine neue Entwicklung und somit eine neue Identität zu erschaffen. Diese Dinge, von denen Steves Freundin nichts wusste, sind ebenso Dinge, von denen auch Steve bisher nichts wusste. Aber nur, weil sie bisher unbemerkt unter der Oberfläche schlummert, bedeutet das nicht automatisch, dass sie nicht schon von Anfang an dort waren und letztlich nur auf diesen Schlüsselreiz lauerten, den ausschlaggebenden Stimulus, um freigeschaltet zu werden. Im schwulen Leder- und SM-Milieu stakst Steve an seinen ersten Abenden noch wie ein Außenseiter durch die Clubs, offensichtlich hilflos dem hitzigen Anblick des hedonistischen Treiben ausgeliefert.

Noch bevor der sich HIV-Virus codiert als „Schwulenseuche“ in das kollektive Bewusstsein hineinfressen konnte, erzählt „Cruising“ von jenen Tagen, in denen die freie Liebe der 1970er Jahre lange ausklang und die reaktionäre Politik unter Ronald Reagan in der Gesellschaft an Durchschlagskraft gewonnen hat. Dieses Bild, welches „Cruising“ von den Clubs liefert, ist selbstverständlich nicht aus der Luft gegriffen, allerdings sind diese hier porträtierten brunftigen Zustände nur noch Teil einer staubigen Vergangenheit. „Cruising“ fungiert daher auch als pessimistisches Zeitdokument und geleitet in einen urbanen Moloch, in dem Identifikation nicht über den sozialen Status, sondern über das Geschlechtsorgan herbeigeführt wird. Die Beschränkung auf eine klare sexuelle Orientierung führt nicht dazu, dass man selbst die Macht über das eigene Geschlecht erlangt, stattdessen vollstreckt sich das genaue Gegenteil – Repräsentiert durch den schemenhaften Killer, der einer väterlichen Gewalt ausgeliefert war, die ihm nur noch den Schwanz und das Messer zum Kommunikationsmittel bereitstellt: Penetration als letzte Bastion der Verständigung.

Ist „Cruising“ aber hom*ophob in seiner Milieu-Schilderung? Reduziert er die Schwulen und ihre elektrisierenden Horte der promiskuitiven Verschmelzung als anal-fistende Brutstätte des Bösen? Wenngleich sich „Cruising“ selbstverständlich hochgradig ambivalent artikuliert, so ist es nicht in William Friedkins Intention veranlagt, die hom*osexualität in irgendeiner Weise zu diskreditieren oder pathologisieren. Es bleiben indes zwei Sichtweisen, die sich nicht voneinander trennen lassen, sondern ineinander existieren: Während einerseits natürlich die Gefahr durch den ominösen Killer bleibt, der sich ebenfalls an der knarzenden Lederkluft und verschwitzten Muskelshirts reibt und sich somit vollends in der Masse auslöst, sind die testosterongeschwängerten Hallen der Fleischeslust auch identitätsstiftende Projektionsflächen einer faszinierenden Scheinrealität. Steve muss sich verlieren, um sein wahres Ich zu erfassen. Allerdings ist dieses „wahre Ich“ eine widersprüchliche Illusion, eine Hülle, eine Maske, die es abzulegen gilt, wenn man sich weiterhin am Leben beteiligen möchte.Die Identität, und das macht „Cruising“ ersichtlich, entfaltet nicht deine Persönlichkeit, sie stellt nur das aus, was andere Menschen in dir sehen möchten.

Fazit

Wo die Dramaturgie von „Cruising“ zu Anfang noch den Anschein erweckt, sich routinemäßig in die Genealogie des amerikanischen Polizei-Thrillers einzureihen, in dem ein junger Cop innerhalb seiner Undercover-Ermittlungen in ein ihm unbekanntes Milieu absteigt, bricht William Friedkin in Wahrheit zu höheren Zielen auf: Er möchte den Zuschauer nur durch Konventionen, durch das ihm Bekannte locken, um anschließend über die wahre Sinnhaftigkeit einer Identität zu sinnieren. „Cruising“ ist ambivalent, in jedweder Hinsicht, aber bei genauerer Betrachtung wird man feststellen, dass „Cruising“ keinesfalls hom*ophobe Tendenzen bestätigt, sondern die schwule Club-Szene in den 1980er Jahren als einen faszinierend-mysteriösen Ort versteht, an dem Menschen die Chance bekommen haben, aus dem Gefängnis ihres Seins zu schlüpfen und sich permanent weiterzuentwickeln wie neuzuerfinden. Die Identität ist eine Illusion und der Mensch fortwährend in der Lage, sie wie eine Maske auf- und abzustreifen. Um diese Erkenntnis in Erfahrung zu bringen muss man sich allerdings erst einmal auflösen.

Kritik: Pascal Reis

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Author: Tish Haag

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